Die optimale Steuerung von Lagerbeständen ist aufgrund komplexer Einflussfaktoren eine zentrale Herausforderung der gesamten Supply-Chain. Der Großhandel spielt dabei eine zentrale Rolle, indem er als Zwischenhändler zwischen Herstellern und Endverbrauchern als Puffer agiert. Viele mittelständische Großhändler zeichnen sich hier durch ihre Flexibilität, spezialisiertes Fachwissen und Kundennähe aus. Sie tragen wesentlich zur wirtschaftlichen Stabilität und Innovationskraft bei.
Für viele mittelständische Großhändler stellt das Bestandsmanagement einen der Grundpfeiler für deren Wettbewerbsfähigkeit dar. Es hat den Zweck, Ware und Materialien in der optimalen Menge zum richtigen Zeitpunkt zu bestellen und am richtigen Ort für den Bedarfsfall bereitzustellen. Durch die zeitliche und mengenmäßige Differenz von eingehenden und ausgehenden Materialflüssen eines Lagers erfüllt es eine Pufferfunktion. Die Entscheidung, welche Menge eines Artikels zu welchem Zeitpunkt (nach-)bestellt werden soll, hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab: Einkaufskonditionen und verfügbare Lagerkapazitäten müssen hier ebenso berücksichtigt werden, wie die prognostizierte Nachfrage und Wiederbeschaffungszeiten sowie gewünschte Warenverfügbarkeit (Servicelevel). Die zuverlässige und genaue Prognose der Nachfrage ist dabei noch eine Herausforderung für sich.
Die Aufwände zur Erstellung und Überprüfung der Prognosen sind bei einer wöchentlichen oder monatlichen Erstellung und einer fünf- bis sechsstelligen Artikelanzahl manuell nur mit hohem Personaleinsatz zu bewältigen. Immer wieder kommt es zu individuellen Schwankungen unter den Planungsmitarbeitenden, da persönliche Einschätzungen und Ziele bei der manuellen Planung starke Einflüsse haben können.
Zudem fällt es auch erfahrenem Fachpersonal schwer, die Schwankungen in den Bedarfen richtig einzuschätzen und alle Einflussfaktoren wie Einkaufskonditionen, angestrebte Kapitalbindung und Lagerkapazität einzubeziehen. Die Folge sind zu hohe Sicherheitsbestände und damit hohe Kosten: Neben Lagerraum-, Personalkosten sowie den Opportunitätskosten des gebundenen Kapitals (Working Capital) birgt ein hoher Sicherheitsbestand zusätzlich Risiken durch Wertveränderungen oder ausbleibende Nachfrage.
Systemische Unterstützung liefern dabei Enterprise-Resource-Planning (ERP)-Systeme und erweiterte Dashboards. Bei vielen mittelständischen Großhändlern kommen hier Eigenentwicklungen oder angepasste ERP-Systeme zum Einsatz, da die jeweiligen Anforderungen sehr spezifisch sind. Da die meisten ERP-Systeme oftmals eine einfache Punktprognose, also einen einzelnen Prognosewert, des zukünftigen Bedarfes pro Artikel ausgeben, werden Unsicherheiten in der Nachfrage sowie vorhandene zusätzliche Daten vernachlässigt.
Neue KI-Ansätze können die Bestandsplanung im Großhandel erheblich verbessern. Durch den Einsatz von KI lassen sich große Datenmengen analysieren und präzise Vorhersagen treffen, die menschliche Fachkräfte allein nicht bewältigen könnten. Beispielsweise können sie saisonale Schwankungen, Promotionen und Produkthierarchien berücksichtigen und die Bestandsplanung dynamisch anpassen. Diese Technologien ermöglichen es, Trends und Muster im Kaufverhalten frühzeitig zu erkennen und die Lagerbestände entsprechend anzupassen.
Bisher kommen in den meisten Fällen simple Prognosemethoden zum Einsatz, wie exponentielle Glättung oder ARIMA (Autoregressive Integrated Moving Average). Diese setzen jedoch oft lineare Beziehungen voraus, während elaboriertere KI-Methoden auch nichtlineare Muster erkennen können und besser mit einer größeren Anzahl von Merkmalen und Variablen umgehen können. In vielen Anwendungsfällen bieten einfache Methoden keine ausreichend hohe Genauigkeit, insbesondere bei komplexen Datensätzen. Außerdem gibt nicht ein einzelnes Modell die beste Prognose für alle betrachteten Artikel aus. Vielmehr muss für jeden Artikel bzw. für jeden Absatzkurven-Typ ein passendes Modell verwendet werden.
Prognosen sind immer mit einer gewissen Unsicherheit verbunden (engl. forecast uncertainty). In der Praxis kann nicht davon ausgegangen werden, dass eine Punktprognose genau zutrifft. Häufig wird ein zusätzlicher Sicherheitsbestand eingeplant, um Nachfragen, die über dem Prognosewert liegen, bedienen zu können. Die richtige Bestimmung dieses Sicherheitsbestands sollte dabei auf einer datengetriebenen Einschätzung der Prognoseunsicherheit und damit des Out-of-Stock-Risikos beruhen, was in der Praxis selten der Fall ist.
Auch um ein angestrebtes Servicelevel zu erreichen, ist eine korrekte Abschätzung der Prognoseunsicherheit unerlässlich. Neueste Prognosemethoden geben nicht nur ein, sondern hunderte Szenarien für die zukünftige Nachfrage aus. Anstatt nun z. B. einen Mittelwert all dieser möglichen Szenarien auszugeben und diesen als gegeben anzunehmen, kann die Streuung all dieser Szenarien als Prognoseunsicherheit interpretiert werden. Je nach Strategie kann sich nun gegen alle möglichen Zukunftsszenarien abgesichert oder ein bestimmtes Servicelevel erreicht werden, in dem z. B. 90 % aller Szenarien bedient werden sollen.
Die präzisen KI-basierten Prognosen allein können eine große Entscheidungsunterstützung bieten. Um allerdings ein höheres Automatisierungslevel und somit geringen manuellen Aufwand zu erreichen, nutzt man am besten die Kombination aus Prognosen und mathematischer Optimierung.
Dabei fließen die oben beschriebenen Prognosen in ein Optimierungsmodell ein, welches die optimalen Bestellmengen und -zeitpunkte für alle Artikel auf Basis der vorhandenen Daten bestimmt. Mathematisch optimal ist die Bestellstrategie dann, wenn die vordefinierte Zielsetzung bestmöglich erfüllt wird. Die Zieldefinition umfasst beispielsweise die Höchsteinkaufspreise oder Mindestverfügbarkeitsanforderungen. Um dieses Ziel vollumfänglich abzudecken, müssen eine Vielzahl an Faktoren und Daten berücksichtigt werden. Neben den Prognosen spielen für die Deckung der Nachfrage unter anderem ausstehende Bestellungen, Lagerbestände, Wiederbeschaffungszeiten sowie Sicherheitsbestände eine entscheidende Rolle. Die genauen Losgrößen werden im Wesentlichen durch die Einkaufsbedingungen, Lagerkapazitäten und die Kapitalbindungskosten bestimmt.
Durch die Erweiterung des Modells zu einem stochastischen Optimierungsmodell können auch Unsicherheiten in der Bedarfsprognose, also unterschiedliche Szenarien der zukünftigen Artikelnachfrage, berücksichtigt werden. Dadurch ist der ermittelte Bestellvorschlag nicht nur auf einen Einzelfall ausgerichtet, sondern zielt darauf ab, im Mittel über alle möglichen Realisierungen eine gute Entscheidung zu treffen und ist so gegenüber Unsicherheiten abgesichert.
Solche kombinierten Prognose-Optimierungsmodelle generieren automatisiert innerhalb weniger Sekunden einen Bestellvorschlag für die Disponent:innen, der die messbaren Praxisanforderungen optimal erfüllt. Das stellt eine erhebliche Unterstützung für den Arbeitsalltag in der Disposition und im Einkauf dar. In einer theoretischen Evaluation der KI-Bestellstrategie im Vergleich zur Bestellung nach Bedarf konnten durch die Automatisierung 20 % – 30 % der Arbeitszeit in der Disposition eingespart werden. Zeitgleich konnten die Einkaufskosten, welche durch die Aufwände bei der Disposition und vor allem beim Transport entstehen, um bis zu 3 % gesenkt werden. Außerdem ergab sich in den theoretischen Evaluationen ein einmaliges Einsparpotenzial von 10 % – 30 % der durchschnittlichen Bestandskosten je Artikel. Die hohe Varianz des Einsparungspotenzial liegts an den unterschiedlich fortschrittlichen Planungsprozessen in den untersuchten Großhändlern.
In Echtzeitanwendungen wie der Bestandsplanung ist die Anbindung an das unternehmenseigene ERP-System sowie an zusätzliche Datenquellen unverzichtbar. Diese Integration lässt sich zum Beispiel effizient durch den Einsatz von Mikroservice-Architekturen realisieren. Die Software kann damit sowohl beim Großhändler lokal (on-premise) als auch in der Cloud gehostet werden. Durch die Kapselung (Containerisierung) können einzelne Services wie „Datenanbindung“ oder „KI-Modell-Training“ unkompliziert und individuell aktualisiert, modular ausgetauscht und hinsichtlich der Rechenleistung ressourcenschonend skaliert werden.
Für KMU ist es meist nicht möglich, eine eigene KI-Abteilung aufzubauen. Deshalb empfiehlt es sich hier mit Organisationen zusammenzuarbeiten, welche Expertise in KI und vor allem Machine Learning Operations (MLOps) vorweisen können. Durch MLOps lassen sich Wartung und Instandhaltung der KI-Anwendung automatisieren, z. B. durch ereignisgesteuertes Re-Training. Dadurch wird langfristig ein wichtiges Ziel erreicht: Den Betrieb solcher Lösungen in Zeiten des KI-Fachkräftemangels sicherzustellen.
Für die bessere Akzeptanz für die KI-Lösungen ist vor allem in der Einführungsphase eine teilautomatisierte Lösung zu empfehlen, bei der die Fachkräfte die KI-Vorschläge prüfen und freigeben. Teilautomatisierte KI-Lösungen beziehen sich auf Systeme, die einige Aufgaben oder Prozesse mithilfe von Künstlicher Intelligenz (KI) automatisieren, während andere Aufgaben weiterhin menschliches Eingreifen erfordern. Diese Art von Lösungen kombiniert die Effizienz und Präzision von KI mit der Flexibilität und dem Urteilsvermögen menschlicher Expertise. Bei der Vielzahl an Artikeln im Großhandel kann ein KI-basiertes Bestandsplanungstool anzeigen, bei welchen Artikeln eine größere Unsicherheit herrscht und diese dem Fachpersonal explizit zur Prüfung vorlegen.
Der Einsatz von KI in der Bestandsplanung bietet KMU zahlreiche Vorteile. Er steigert die Effizienz durch Automatisierung und Optimierung von Prozessen, ermöglicht genauere Bedarfsprognosen und eine bessere Lagerverwaltung. Zudem erlaubt die KI die Auswertung großer Datenmengen in Echtzeit, was zu schnelleren und fundierteren Entscheidungen führt, und hilft, Risiken wie Bestandsengpässe und Überbestände zu minimieren. Ein weiterer Vorteil ist die Skalierbarkeit der KI-Systeme, die an veränderte Geschäftsanforderungen angepasst werden können, ohne signifikant zusätzliche Ressourcen zu benötigen.
Dennoch gibt es auch einige Nachteile. Die Implementierung von KI-Lösungen kann kostspielig sein, insbesondere in der Anfangsphase, und die Integration in bestehende Systeme gestaltet sich oft komplex und zeitaufwendig. Die Leistungsfähigkeit der KI hängt stark von der Qualität und Quantität der verfügbaren Daten ab und es kann schwierig sein, qualifizierte Fachkräfte zur Entwicklung und Wartung der Systeme zu finden. Zudem erfordern KI-Systeme regelmäßige Wartung und Aktualisierung, um ihre Effektivität zu bewahren.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Einsatz von KI in der Bestandsplanung für KMU sowohl erhebliche Vorteile als auch einige Herausforderungen mit sich bringt. Trotz dieser Herausforderungen überwiegen die Vorteile, insbesondere durch die langfristige Zeit- und Kosteneinsparung. Unternehmen sollten daher sorgfältig abwägen und gegebenenfalls schrittweise vorgehen, um die Potenziale der KI bestmöglich zu nutzen.