Die anfallenden Lederreste liegen in unterschiedlichen Größen, Sorten, Qualitätsstufen oder Verarbeitungsarten (z. B. gegerbt oder gefärbt) vor. Aktuell werden diese, wenn möglich, weiterverwendet, aber zum großen Teil verschenkt – selten auch weiterverkauft –, entsorgt oder geschreddert und zu Kunststoffplatten gepresst. Letzteres ist allerdings recht aufwandsintensiv und dadurch wenig lukrativ. Leder kann außerdem in mehrere Schichten gespalten und dann unterschiedlich weiterverwendet werden, z. B. als Verloursleder, umgangssprachlich auch als Wildleder bezeichnet. Zum Großteil werden aber auch hier einige der Schichten schließlich entsorgt. Geschäftsführer Jean-Thomas Keil sieht Potenzial in den Lederresten und möchte diese zu neuen Produkten verarbeiten, nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen, sondern vor allem im Sinne der Nachhaltigkeit. Dafür hat er sich für eine Potenzialanalyse an das Mittelstand-Digital Zentrum Augsburg gewandt.
In Online-Workshops und einem Vor-Ort-Besuch in Kassel diskutierte das Projektteam, bestehend aus Herrn Keil und den Mittelstand-Digital Expert:innen Christian Looschen und Maria Maier von der Technischen Universität München, folgende Fragen: Wie kann so ein nachhaltiges Remanufacturing-Produkt aussehen? Wie wird das Produkt konkret hergestellt? Wie nachhaltig ist diese Form der Aufbereitung wirklich? Dazu musste sich das externe Team zunächst ein Produktverständnis schaffen, also welche Sorten und Formen von aufbereitetem Leder (geschnitten, gespalten, geprägt etc.) es gibt und welche Produktionsschritte für das Vorhaben interessant sein könnten. Zum Beispiel lassen sich Stücke zu einem Patchwork-Material zusammenkleben, ohne dass Nähte oder Fügestellen sichtbar sind.
Die Lösung: KI-gestütztes, automatisiertes Prüfen, Legen und Fügen von Lederresten
Als Ergebnis der Potenzialanalyse wurde ein Prozessentwurf entwickelt, wie Lederreste künftig analysiert und automatisiert platziert sowie schließlich aneinandergefügt werden können, um so neue Lederstücke für die Weiterverarbeitung zu schaffen. Ein solches Produkt könnte unter Umständen als „nachhaltig aus Restmaterial produziert“ gekennzeichnet werden und damit auch ein für Endkund:innen attraktives Kaufargument liefern. Letztendlich könnten so nicht nur eigene Schnittreste weiterverarbeitet werden, sondern beispielsweise auch von lederverarbeitenden Kunden günstig abgekauft und wiederaufbereitet werden und damit ein weiteres Geschäftsmodell etabliert werden.
Was sich so einfach zusammenfassen lässt, ist allerdings derzeit ein technisch und organisatorisch hochkomplexes Verfahren. Insbesondere die Analyse sowie das Platzieren sind zum aktuellen technischen Stand größere Herausforderungen. Mittels Leichtbauroboter, Kamera und einer KI-Lösung (z. B. einem Bilderkennungsalgorithmus) müssten zunächst die Zuschnitte flach platziert und dann klassifiziert werden – nicht nur hinsichtlich ihrer Maße, sondern auch nach Sorte, Qualität, Dicke und Festigkeit, Aufbereitungsart, Farbe oder Schicht. Zusätzlich müsste ein digitaler Abgleich mit einer vorgegebenen und im System eingelernten Produktpalette (spezielle Form und Größe für spezielle Kundenprodukte) erfolgen, um herauszufinden, welche Teile überhaupt zu welchem Produkt gefügt werden können. Auch das automatisierte Platzieren der Teile ist bei unterschiedlichen Festigkeiten und Formen nicht ganz einfach. Und schließlich müssten die zueinanderpassenden Teile exakt nebeneinander platziert und bzw. mittels Klebevorrichtung aneinandergefügt sowie ggf. noch zugeschnitten werden.
Es besteht auch die Möglichkeit beispielsweise nur das Analysieren und Vorgeben von Mustern von einer digitalen Lösung erledigen zu lassen und die restlichen Arbeitsschritte wie Platzieren und Fügen weiter analog durchzuführen. Hier stellt sich dann langfristig allerdings die Frage der Wirtschaftlichkeit.
Wie lässt sich das realisieren?
Weil die Entwicklung einer solchen automatisierten Lösung für ein Kleinunternehmen nur schwer zu stemmen ist, empfehlen die Mittelstand-Digital Expert:innen, sich hier um ein öffentlich gefördertes Projekt zu bewerben und gemeinsam mit anderen Lederverarbeitern voranzutreiben. Herr Keil verfügt aufgrund seiner langjährigen Branchenkenntnis über ein großes Netzwerk und hat bereits ein Partner-Unternehmen mit an Board. Aktuell ist er auf der Suche nach weiteren interessierten Projektpartnern. Geplant ist, dass das Projekt künftig von der Technischen Universität München weiterbegleitet wird – auch was die Nachhaltigkeitsbewertung angeht. Bislang drehen sich Lebenszyklusanalysen von Produkten (Life Cycle Assessment) eher um die Vermeidung von Ausschuss, als um dessen Weiterverarbeitung. Weitere offene Fragen sind die konkrete Gestaltung einer Rückführungslogistik, eine Analyse von Marktgröße und erzielbaren Preisen sowie der Amortisation der nötigen Investition.
Im Zuge einer wachsenden Bedeutung von Nachhaltigkeitskennzahlen liegt in diesem Anwendungsfall jedoch auf jeden Fall großes Potenzial. Zudem könnte auch die Anwendung selbst ein Produkt von hoher Nachfrage sein, wenn es um die Wiederverwertung von Restmaterialien geht, die bisher auf dem Müll landen. Wichtig ist dabei unbedingt, „Greenwashing“ zu vermeiden, sondern vielmehr echten Nutzen zu schaffen.